72. Das zweite Stadium ist „Bedingungslose Liebe“. Das bedeutet, dass der Mensch die Güte seines Freundes erkannte, die wundervoll ist und alles Denkbare und Vorstellbare übersteigt, und infolgedessen mit seinem Freund in unendlich großer Liebe verschmolz.
Hier sind ebenfalls zwei Stufen möglich: Die erste ist die, bevor man nicht jede Handlung und jedes Verhalten seines Freundes anderen gegenüber kennt, wird diese Liebe als „nicht absolute Liebe“ bezeichnet.
Das liegt daran, dass der Freund sich anderen gegenüber so verhält, dass es oberflächlich gesehen aufgrund von Unwissenheit nachlässig erscheint. Wenn der Liebende den Freund so sehen könnte, würde der Vorzug des Freundes vollkommen befleckt und die Liebe zwischen ihnen wäre beschädigt. Da er aber bislang diesen Umgang nicht gesehen hat, ist seine Liebe immer noch vollkommen, großartig und wundervoll.
73. Das zweite Attribut der bedingten Liebe ist das vierte Attribut der generellen Liebe, welches ebenfalls vom Wissen um die Verdienste des Freundes herrührt. Jetzt kennt man endlich in Ergänzung hierzu all sein Handeln und Betragen jedermann gegenüber, niemanden ausschließend. Man hat ergründet und gefunden, dass da nicht nur keine Spur an Übel in ihm vorhanden ist, sondern dass seine Tugend größer als alles Vorstellbare ist. Nun handelt es sich um “ewige, vollständige Liebe”.
74. Beachte, dass diese vier Attribute der Liebe zwischen Mensch zu Mensch ebenfalls zwischen Mensch und Gott Anwendung finden. Überdies entwickeln sie sich hier, in der Liebe Gottes, zu Stufen der Form von Ursache und Wirkung.
Es ist unmöglich, eines von ihnen zu erlangen, bevor nicht das Attribut der bedingten Liebe erlangt wurde. Nachdem es vollständig erlangt wurde, bewirkt das erste Attribut die Erlangung des zweiten Attributes. Nachdem man das zweite Attribut vollständig erlangt hat, wird man zum dritten Attribut veranlagt. Schließlich vom dritten Attribut zum vierten Attribut, der ewigen Liebe.
75. Daher erhebt sich die Frage: wie kann man die erste Stufe der Liebe zu Gott als erste Stufe der bedingten Liebe erlangen, welche die Liebe ist, die sich durch die vielfache Güte darstellt, die man vom Geliebten erhält, wenn es in dieser Welt keine Belohnung für die Mizva gibt?
Ferner hat man gemäß dem oben Gesagten zuerst die zwei Formen der Vorsehung im Wege der Verbergung des Angesichtes zu durchlaufen. Mit anderen Worten ist Sein Grad der Güte, zu diesem Zeitpunkt verborgen (Punkt 47). Weshalb man in dieser Zeit Schmerz und Leid erfährt.
Wir haben jedoch gelernt, dass die Ausführung der Torah und die Arbeit aus der Wahl heraus vorrangig während der Zeit der Verbergung des Angesichts von statten geht. Wenn dies so ist, wie kann es sein, dass einem das zweite Attribut der bedingten Liebe zuerkannt wird, das darin besteht, dass der Geliebte jedesmal nur wundersame und reichlich gute Dinge getan hat und niemals irgend ein Leid verursachte, und mehr noch bei Erreichung des dritten und vierten Grades?
76. Tatsächlich tauchen wir hier in tiefe Wasser. Zumindestens müssen wir hieraus einen kostbaren Edelstein angeln. Lasst uns zu diesem Zweck die Worte unserer Weisen untersuchen: “Du sollst deine Welt in deinem Leben sehen und dein Ende des Lebens in der nächsten Welt.”
Wir müssen begreifen, warum sie nicht sagten, “Du wirst deine Welt in deinem Leben erhalten”, sondern nur “sehen”? Wenn sie hätten segnen wollen, dann hätten sie es vollständig getan, nämlich um die eigene Welt im eigenen Leben zu erreichen und zu erhalten. Wir müssen auch verstehen, warum ein Mensch die nächste Welt in seinem Leben sehen sollte, wenigstens wird sein Ende des Lebens in der nächsten Welt sein. Warum haben sie darüber hinaus diesen Segen voran gestellt?
77. Wir müssen zuerst verstehen, was ist das Sehen der nächsten Welt in jemandes Leben? Mit Sicherheit können wir mit unseren körperlichen Augen nichts Spirituelles sehen. Es liegt sicher nicht im Verhalten des Schöpfers, die Gesetze der Natur zu verändern. Dies ist so, weil der Schöpfer diese Zusammenhänge ursprünglich in einer Art und Weise arrangierte, damit sie am erfolgreichsten ihren Zweck erfüllen. Durch sie kommt man zu einer Verbindung mit Ihm, wie geschrieben steht, “Der Herr hat alle Dinge zu Seinem Zweck gemacht.” Wir müssen daher verstehen, wie man die eigene Welt im eigenen Leben sieht?
78. Ich sollte euch erzählen, dass das Sehen zu einem Menschen über das Öffnen der Augen für die heilige Torah kommt, wie geschrieben steht, “Öffne Du mir meine Augen, auf dass ich wundersame Dinge aus Deinem Gesetz zu erblicken vermag.” Hierrüber hat die Seele ihren Schwur gegeben, bevor sie in den Körper eintrat (Nida p.30), und “selbst wenn die ganze Welt sagt, du seist rechtschaffen, sieh dich in den eigenen Augen als boshaft,” besonders in deinen eigenen Augen.
Dies bedeutet, dass man sich selbst als boshaft betrachten soll, solange einem nicht die Öffnung der Augen für die Torah zuerkannt wurde. Mache dich nicht selbst zum Narren, indem du dich in der gesamten Welt als rechtschaffen darstellst.
Nun verstehen wir auch warum sie den Segen “Du wirst deine Welt in deinem Leben sehen” an den Anfang aller Segnungen stellten. Es rührt daher, dass man davor nicht einmal die Eigenschaft eines “unvollkommenen Gerechten” zuerkannt bekommt.
79. Wir haben noch nicht verstanden, weshalb es, wenn jemand im Inneren weiß, dass er bereits die gesamte Torah eingehalten hat und dass die ganze Welt mit ihm darin übereinstimmt, noch nicht genug ist? Stattdessen hat er sich geschworen, sich selbst als böse anzusehen. Liegt es daran, dass diese erstaunliche Stufe des Öffnens der Augen für die Torah in ihm fehlt, sodass man ihn mit einem Bösen vergleichen könnte?
80. In der Tat wurden bereits die vier Weisen erklärt, wie die Menschen die Lenkung des Schöpfers erkennen, und zwar zwei in der Verhüllung des Angesichts und zwei in der Offenbarung des Angesichts.
Auch der Grund der Verhüllung des Angesichts vor den Geschöpfen wurde erklärt; es geschieht absichtlich, um den Menschen Raum zu geben, sich zu bemühen und sich mit der Arbeit für den Schöpfer in der Torah und den Mizwot aus freier Wahl zu beschäftigen. Dies erhöht die Zufriedenheit des Schöpfers bei ihrer Arbeit mit Seiner Torah und Mizwot mehr als Seine Zufriedenheit an den hohen Engeln, die keine Wahl haben und die gezwungen sind zu arbeiten.