1927, London
An meinen Herzensfreund... möge seine Kerze leuchten
Du schreibst, dass du die neuen Erklärungen der Thora in meinem Brief nicht verstehst, doch sie müssten gerade für dich verständlich sein. Nachdem du den Weg deiner Arbeit ebnen wirst, wirst du sie natürlich verstehen, denn daher schrieb ich dir von ihnen.
Hinsichtlich der Worte Seine böswilligen Vergehen wurden für ihn zu Verdiensten" sagtest du, dass der Mensch, wenn er zum Schöpfer zurückkehrt, mit seinen Augen sieht, wie der Schöpfer ihn zu Vergehen gezwungen hatte, sie aber damit einher mit ganzer Seele korrigiert, als hätte er diese Vergehen aus eigenem Willen begangen. Dadurch würden eben die böswilligen Vergehen zu Verdiensten werden etc. Doch du bist noch nicht zum Kern vorgedrungen. Denn im Endeffekt werden dabei nicht die böswilligen Verbrechen, sondern die erzwungenen Versündigungen zu Verdiensten. Und bei der Analyse der Sünde, die von Adam Rischon begangen wurde, warst du noch weiter vom Weg abgekommen, indem du seine Seele verpflichtet hast, infolge einer erzwungenen Versündigung durch das Exil zu gehen und eine erzwungene Versündigung als Vergehen dargestellt hast. Du hast das damit erklärt, dass es nicht von Bedeutung ist, ob das Kind sich selbst schmutzig gemacht hat oder infolge der Handlungen seines Vaters- denn nun ist er schmutzig und er muss sich waschen. Hier wundere ich mich, wie aus der Reinheit Schmutz wurde?
Deine letzten Worte sind ehrlich. Du bist in unbekannte Gefilde vorgestoßen und hast es aus Gewohnheit zu deinem Anliegen gemacht, Herden zu weiden, die dir nicht gehören. Und daher hast du meine Worte nicht verstanden, die sich eben auf dich bezogen und auf niemand anders. Möge es Sein Wille sein, dass diese Worte dir ausreichen würden, um nicht mehr in fremden Weingärten zu weiden. Im Buch Sohar steht: Der Mensch darf seinen Blick nicht an den Ort richten, den er nicht braucht".
Du hast geschrieben, dass ich den Sinn meiner Worte zwischen den Zeilen verberge. Es heißt: Vielerlei sind die Bedürfnisse Deines Volkes Israel" usw. Denn für dich gibt es keine Stunde, die einer anderen gleichen würde. Es steht geschrieben: Diejenige, die den Eingang umschwärmen, laufen weg und kommen zurück, doch die Tore öffnen sich nicht". Die Wechsel ihrer Zustände kennen keine Grenze. Wenn ich Worte der Thora schreibe oder ausspreche, dann äußere ich sie, damit sie mindestens einige Monate lang Nutzen bringen, d.h. damit sie an passenden Momenten im Verlauf der Zeit klar werden. Was soll ich aber tun, wenn passende Momente nicht viele sind, wenn es mehr Leeres als Festes gibt, und meine Worte in Vergessenheit geraten?
Natürlich ist es unmöglich, mit spekulativem menschlichen Verstand den Sinn meiner Worte überhaupt zu sehen, weil sie aus den Buchstaben des Herzens gesprochen und zusammengesetzt werden.
Du hast dir etwas eingebildet, bist darin hineingegangen und konntest nicht heraus, weil du an Berechnungen ermüdet bist. In dieser Hinsicht werde ich dir in allgemeinem Sinne sagen, dass gerade derjenige, der aus Liebe zurückkehrt, der maximalen Verschmelzung würdig wird, d.h. der Spitze der Stufen. Der Mensch dagegen, der zu Sünden bereit ist, befindet sich in der Tiefe des Abgrunds. So sind die zwei Punkte, die in dieser Wirklichkeit am weitesten voneinander entfernt sind.
Auf den ersten Blick müsste man Rückkehr" als Perfektion" bezeichnen. Doch dieses Wort verweist darauf, dass alles von Anfang an bereitet ist und jede Seele bereits in ihrem ganzen Licht, Güte und Ewigkeit weilt. Nur wegen des Brots der Scham" ist die Seele aus diesem Zustand mittels von Kontraktionen ausgetreten, bis sie sich schließlich in einen trüben Körper hüllte. Nur dank ihm kehrt sie zu ihrer Wurzel zurück, wo sie sich vor der Kontraktion befand, mit einer Belohnung von diesem ganzen schrecklichen Weg, den sie zurückgelegt hat. Im Grunde stellt diese Belohnung die wahre Verschmelzung dar. Mit anderen Worten befreit sich die Seele vom Brot der Scham", da ihr Gefäß des Empfangens sich in ein Gefäß des Gebens verwandelt, und sie sich in ihren Eigenschaften ihrem Erschaffer angleicht. Doch zu diesem Thema habe ich bereits viel gesagt.
Daraus wirst du verstehen, dass wenn ein Fall zum Zweck des Aufstiegs geschieht, er als Aufstieg und nicht als Fall gilt. Und tatsächlich ist dieser Fall in seinem Wesen Aufstieg, weil sich die Buchstaben des Gebetes selbst mit Überfluss (an Wonne) erfüllen. Doch ein kurzes Gebet wird zur Kürzung des Überflusses infolge des Mangels an Buchstaben führen. Die Weisen sagten: Wenn Söhne Israels nicht sündigen würden, würden ihnen nur die fünf Bücher Moses und das Buch Josua gegeben werden". Und das reicht für den Verstehenden aus.
Man kann dafür das folgende Beispiel anführen. Ein großer Reicher hatte einen einzigen Sohn im zarten Alter. Es kam ein Tag, an dem der Vater für viele Jahre fern von zu Hause reisen musste. Und der Reiche hat Angst bekommen: dass der Sohn seine Habe nur nicht für schlechte Zwecke verjubeln möge.
Nach langem Überlegen tauschte er seinen Besitz in Edelsteine, Perlen und Gold um. Dann baute er einen großen Keller tief unter der Erde und versteckte darin alle Golderzeugnisse, alle Edelsteine und Perlen, und platzierte außerdem seinen Sohn darin.
Er rief seine treuen Diener zusammen und befahl ihnen, darauf zu achten, dass sein Sohn den Keller nicht verlässt, bevor er nicht 20 Jahre als wird. Außerdem befahl der Vater, seinem Sohn täglich Essen und Trinken zu bringen, ihm aber keinesfalls Feuer und Kerzen zu geben, und zu prüfen, dass es in den Wänden keine Risse gibt, durch welche Sonnenstrahlen in den Keller gelangen könnten. Und für die Gesundheit des Sohnes befahl der Vater den Dienern, ihn täglich aus dem Keller für eine Stunde nach draußen zu fühlen und mit ihm durch die Straßen der Stadt zu spazieren- doch unter einer guten Bewachung, damit er nicht fliehen würde. Und wenn der Sohn 20 Jahre alt wird, dann wird man ihm Licht geben, das Fenster öffnen und erlauben, herauszugehen.
Natürlich kannte das Leid des Sohnes keine Grenzen, umso mehr da er sah, wenn er in der Stadt spazieren ging, dass alle jungen Leute essen, trinken und sich in den Straßen vergnügen, ohne Bewachung und ohne eine bemessene Zeit, und er im Gefängnis sitzt, und Augenblicke des Lichts ihm nach Stunden gezählt werden. Und wenn er zu fliehen versucht, dann schlägt man ihn ohne Funken des Mitleids. Und was ihn noch mehr betrübt und bedrückt, ist die Tatsache, dass er gehört hat, dass sein eigener Vater selbst dieses ganze Unglück auf ihn heraufbeschworen hat, wobei die Diener nur die Anweisungen des Vaters erfüllen. Selbstverständlich denkt der Sohn, dass sein Vater das grausamste Monster ist von allen, die es je gab- denn das ist einfach unerhört.
An dem Tag, als der Sohn 20 Jahre alt wurde, brachten ihm die Diener gemäß dem Befehl des Vaters eine Kerze hinab. Der junge Mann nahm die Kerze und begann, sich umzuschauen. Und was seiht er nun? Säcke voller Gold und königlicher Reichtümer.
Erst dann verstand er, dass sein Vater wahrlich barmherzig ist und sich um nichts anderes als um sein Wohl gekümmert hat. Der Sohn hat sofort verstanden, dass die Diener ihm natürlich erlauben werden, den Keller frei zu verlassen. Das tat er auch: er verließ den Keller- und es gab keine Wache mehr, keine grausamen Diener, und er ist reicher als alle Reichen der Erde.
Doch in Wirklichkeit geschah nichts Neues. Es stellt sich einfach heraus, dass es von Anfang an alle Tage seines Lebens ein großer Reicher war. In seinen eigenen Empfindungen war er zwar sein Leben land arm, armselig und auf den Boden gestürzt, doch nun wurde er in einem Augenblick sehr reich und stieg aus einem tiefen Abgrund an die Bergspitze auf". Wer wird dieses Gleichnis verstehen können? Ein Mensch, der versteht, dass böswillige Vergehen" eben dieser tiefe Keller mit sicherer Wache ist, aus dem man nicht entkommen kann. Hier werde ich mich fragen, ob du das begreifst.
Die Sache liegt einfach: der Keller und die sichere Wache- all das sind Anschaffungen", die Güte des Vaters zu seinem Sohn, ohne welche dieser niemals so reich werden würde wie der Vater. Doch böswillige Vergehen" - das sind tatsächlich beabsichtigte Sünden", und nicht zufällige Vergehen" oder erzwungene Taten": Bevor der Mensch zu seinem Reichtum zurückkehrte, beherrschte seine Wahrnehmung die Empfindung, in voller Form und voller Bedeutung. Doch nachdem er zu seinem Reichtum zurückkehrte, sieht er, dass all das Güte des Vaters war, und keineswegs Grausamkeit.
Man muss verstehen, dass die Liebe, welche den Vater und seinen einzigen Sohn verbindet, von der Erkenntnis der Güte des Vaters zum Sohn abhängt, Äußerung welcher der Keller wurde, die Finsternis und die sichere Bewachung, denn der Sohn sieht eine große Sorge und eine tiefe Weisheit in diesem Gunstbeweis des Vaters.
Im Heiligen Sohar ist ebenfalls davon die Rede. Darin steht, dass demjenigen, wem die Rückkehr zuteil wurde, sich die heilige Schechina als eine großzügige Mutter offenbart, die ihren Sohn eine lange Zeit nicht gesehen hatte. Eine Vielzahl an wunderbaren Taten haben sie vollbracht, um einander zu sehen, und haben sich deswegen großen Gefahren ausgesetzt usw. Schließlich bekamen sie die langersehnte Freiheit, die sie mit solch einer Ungeduld erwarteten, und es kam ihnen zuteil, einander zu sehen. Dann läuft die Mutter zum Sohn, küsst und tröstet ihn, und führt mit ihm Tag und Nacht ein inniges Gespräch. Sie erzählt von der Sehnsucht, von den Gefahren, die ihr auf ihrem Weg lauerten, und davon, dass sie von Anfang an unverändert bei ihm war. Schechina wich nicht von seiner Seite und litt überall mit ihm, doch er konnte das nicht sehen.
Im Buch Sohar steht, dass die Mutter zum Sohn sagt: Hier überfielen uns Räuber, doch wir erretteten uns vor ihnen. Und hier verbargen wir uns in einer tiefen Schlucht", usw. Welch ein Tor wird die große Liebe, die Zärtlichkeit und die Wonne nicht verstehen, die aus diesen Erzählungen sprudeln, die ihre Herzen trösten.
Die Wahrheit besteht darin, dass vor dem Treffen von Angesicht zu Angesicht die Leiden, die verspürt wurden, schwerer als der Tod waren. Der Buchstabe a" (ע) im Wort Leiden" (Naga) stand am Ende, doch nun befindet er sich am Anfang der Wortverbindung, was, natürlich, Genuss" bedeutet (Oneg). Diese zwei Punkte leuchten erst nachdem sie sich in einer Welt verwirklichen. Stelle dir vor, dass Vater und Sohn, die jahrelang ungeduldig ein Treffen erwarteten, einander schließlich gesehen haben. Doch der Sohn ist taub und stumm, und daher können sie aneinander keine Freude haben. Die Liebe verbirgt sich also hauptsächlich in den Genüssen, die der Stufe eines Königs entsprechen.
Jehuda Leib.